Populäre Irrtümer bei Sozialphobie
Es gibt sie - Dinge, die einfach falsch sind, die aber immer und immer wieder auftauchen und genährt werden. Sie tauchen in der Selbsthilfe auf, werden in den Medien verbreitet und von vielen geglaubt.
All diese Irrtümer werden wir hier - Stück für Stück - sammeln.
Ich muss meiner sozialen Phobie den Kampf ansagen
Das ist ein naheliegender Gedanke: Ich hab da etwas, was mich nervt und behindert. Meine soziale Phobie, meine Ängste vor anderen Menschen. Das will ich weg haben. Was man weg haben will, muss bekämpft werden. Ich sage diesen Ängsten und meinen angstgeprägten Verhaltensweisen also den Kampf an.
Betroffene beginnen dann, hart gegen sich selbst zu werden. Der Wille richtet sich gegen etwas, was man fühlt, denkt oder wie man handelt. Das kann sich soweit steigern, dass man einen richtigen Hass sich gegenüber entwickelt. Genaugenommen bezogen auf das, was man als Sozialphobie an sich wahrnimmt. Und der Kampf dagegen kann sich so steigern, dass es in einen Krieg gegen sich selbst ausartet. Man fängt immer mehr an, sich zu kontrollieren, etwas in sich zu unterdrücken oder sich zu disziplinieren. Ein innerer Diktator führt dann ein hartes Regime.
Der Irrtum steckt hier darin, dass man glaubt, etwas vernichten oder ausrotten zu können, was in Wirklichkeit aber ein Teil des eigenen Selbst ist. Es sind die eigenen Schattenseiten, gegen die man kämpft. Ein Kampf gegen seinen Schatten muss aber scheitern.
Der Grund vieler psychischer Problematiken liegt in einer Spaltung des Ichs. Psychische Gesundheit wird wieder hergestellt, wenn man das wieder integriert, was gespalten ist. Der Kampf gegen sich führt in der Regel zu noch stärkerer Spaltung und führt zu innerer Zerissenheit.
Es hat einen Grund, warum Ängste und andere unangenehme Gefühle entstehen. Die ganzen Symptome zeigen uns etwas, was in der Tiefe verstanden werden will. So verstanden entwickeln wir ein Verständnis für uns und erkennen oft, wie logisch und notwendig genau diese Ängste sind. Und dann können wir etwas ändern, was zu neuen Einsichten und Verhaltensweisen führt.
Das Ziel muss sein, zu einer integrierten Persönlichkeit zu werden. Es ist wie in einem guten Arbeitsteam. Jeder Mitarbeiter hat eigene Bedürfnisse und Wünsche. Diese müssen unter einen Hut gebracht werden. Es geht nicht, dass man einfach die Mitarbeiter unterdrückt, dessen Überzeugungen man nicht teilt. Wie kann es gelingen, dass die Bedürfnisse eines jeden hinreichend berücksichtigt werden? Wie kann ein gutes Miteinander gelingen.
Die Idee, etwas ausrotten zu können, hat eine gewisse Anziehungskraft. Doch das funktioniert in fast keinem Zusammenhang, ob in unserer Psyche oder in Kriegen auf der ganzen Welt.
Der Weg, Verständnis für die eigenen Psyche oder andere Menschen zu entwickeln, damit alles genügend berücksichtigt und integriert wird, ist oft mühsam, lohnt aber immer, ihn zu gehen. Ja noch viel mehr, es ist fast immer der einzige Weg, damit wirkliche Heilung und wirklicher Frieden in unserer Psyche entsteht.
Der Weg, Krieg gegen sich zu führen, verhärtet Menschen. Mag sein, dass sich etwas kurzfristig besser anfühlt, aber es kostet einen hohen Preis und führt nicht zu einem friedvollen und entspannten Umgang mit sich und der Welt.
Es gibt eine andere Form des Kampfes, der hingegen sehr wichtig ist: Es ist kein Kampf gegen eigene Persönlichkeitsanteile, sondern ein kraftvolles Bemühen, etwas in eine positive Richtung zu verändern. Eine Kraft, die integrieren möchte, nicht spalten. Eine Kraft, die sich für Wahrheit, Offenheit und ein gutes Miteinander einsetzt.
Die Alternative zum Kampf gegen sich ist also nicht, passiv zu bleiben. Es geht darum, an den eigenen inneren Widersprüchen zu wachsen und durch Integration vollständiger zu werden.
Verhaltenstherapie ist das Mittel der Wahl
Es wird immer wieder gepredigt: Wer an Sozialphobie leidet, für den kommt vor allem die Verhaltenstherapie in Frage. Dies ist die Methode, die die beste Wirksamkeit nachweisen kann.
Richtig ist, dass bei Verhaltenstherapie geforscht wird, ob sie bei Sozialphobie hilft. Die Forschung ist hier relativ leicht durchführbar. Die Verhaltenstherapie konnte ihre Wirksamkeit nachweisen.
Das bedeutet nicht, dass andere Methoden weniger wirksam sind. Im Extremfall kann es sogar bedeuten, dass einige Verfahren eine geringe Wirksamkeit nachweisen konnten, andere Verfahren ihre hohe Wirksamkeit aber noch nicht nachgewiesen haben. Ob also etwas wirkt und hilft, ist völlig unabhängig von dem wissenschaftlichen Nachweis. Es ist jedoch gut, wenn etwas wissenschaftlich nachgewiesen wird, weil dies eine überprüfbare Sicherheit gibt, dass etwas wirkt.
Die Forschung bei Sozialphobie ist noch nicht sehr weit fortgeschritten. Zu vielen Therapieverfahren, die praktiziert werden, gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Leider. Manches lässt sich grundsätzlich auch schwer wissenschaftlich untersuchen. Das betrifft vor allem Veränderungsprozesse eines Menschen als Ganzes, die im Bewusstsein ablaufen, aber wenig greifbar oder messbar sind. Manche positive Veränderung lässt sich zwar erfahren, wenn ein Therapeut diesen Menschen wahrnimmt, es ist aber schwer, standardisierte Testverfahren zu entwickeln, die solche positiven Veränderungen erfassen können.
Fakt ist, dass Therapeuten und Kliniken bei Sozialphobie sehr vielschichtig arbeiten. Zum Einsatz kommen tiefenpsychologische Verfahren, Körperpsychotherapie, Entspannungsverfahren, Hypnose/Hypnotherapie, familientherapeutische/systemische Therapie, Gestalttherapie, Theatertherapie, künstlerische Therapien, Atemtherapie u.v.m. Vieles davon hat im speziellen Einzelfall seine Berechtigung. Im Einzelfall bedeutet das z.B., dass eine Verhaltenstherapie völlig unwirksam war, eine andere Therapie aber den Durchbruch brachte.
Die Aussage muss also erweitert werden: Verhaltenstherapie kann helfen und eine wirksame Methode sein. Und es gibt jede Menge weiterer Verfahren, die wichtig und hilfreich sind. Vielleicht wirken sie sogar besser. Was hilft und zum Einsatz kommen sollte, ist vom Einzelfall abhängig.
Neben den ganzen Therapien gibt es weitere Formen der Heilung: Nicht selten bewältigen Menschen aus ihrem eigenen Potenzial ihre Probleme. Oder sie schließen sich einer Selbsthilfegruppe an. Manche bewältigen ihre Probleme durch einen hilfreichen Partner oder Freund. Oder sie schließen sich irgendeiner Gruppe an, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun hat. Andere wiederum beziehen viel Kraft und Hilfe aus ihrem Glauben. Und ganz oft ist es eine Kombination aus einer Reihe von Maßnahmen und Wegen.
Wir sollten also auf das große Angebot an Möglichkeiten schauen.
Ab heute wird alles anders
Ein Irrtum sehe ich in der Vorstellung, man könne sich schlagartig ändern. "Ab jetzt wird alles anders!" oder "Jetz fang ich nochmal ganz von vorne an!"
Ich glaube schon, dass man so eine Grundsatzentscheidung treffen kann und dass die auch hilfreich ist. Was man aber nicht übersehen darf: Auch nach dieser Entscheidung ist man erstmal genau der Selbe, der man vor der Entscheidung war. Mit allen Schwierigkeiten und Widersprüchen und Mängeln. Die haben sich nicht in Luft aufgelöst.
Und das bedeutet, dass vor allem Ausdauer gefragt ist, sich jetzt nach der Entscheidung auch wirklich Stück für Stück zu ändern. Dort anzufangen, wo man steht und sich von da aus weiterzuentwickeln. Der Wunsch "Ab jetzt wird alles anders!" ist eher der Wunsch: "Ab jetzt möchte ich alle meine Schwierigkeiten sofort los sein!" Das ist der Irrtum.
Mark Twain drückt das schön so aus:
Eine Angewohnheit
kann man nicht aus dem Fenster werfen.
Man muß sie die Treppe hinunterboxen,
Stufe für Stufe.
Wenn ich nur hart genug übe, werde ich meine Probleme überwinden
Manche sind im Kampf mit sich. Sie gehen nach dem Motto vor "Was mich nicht umbringt, macht mich härter." Sie prügeln sich dann in jede schwierige Situation hinein, um sie durchzustehen. Sie haben die Vorstellung, dass die Angst ein Makel ist, den man loswerden muss und den man los wird, je aggressiver man gegen sie vorgeht.
Resultat ist nicht selten eine emotionale Verhärtung, in der man nichts mehr spürt. Wie Vietnam-Kämpfer, die in anbetracht der ganzen erlebten Grausamkeiten keine Gefühlsregung mehr zeigen. Die aber gleichzeitig schweißgebadet nachts aus ihren Alpträumen erwachen. Eine kleine Insel noch, wo Unverarbeitetes hindurchbricht.
Hart zu werden, um nichts mehr zu fühlen, ist der Weg in die Krankheit. Psychiatrien und psychosomatische Kliniken sind voll mit Menschen, die sich nicht mehr fühlen können, die im Leben verhärtet sind. Sie haben es geschafft, zu überleben, aber sie leben nicht mehr wirklich. Denn mit der Gefühlsabspaltung sind auch all die positiven Gefühle verloren gegangen. Und so kommt es nicht selten zu Depressionen oder Ängsten, weil etwas lebenswichtiges und sinngebendes im Leben verloren gegangen ist. In Kliniken lernen diese Menschen dann in mühevoller Kleinstarbeit, wieder fühlen zu lernen, sich für das Leben zu öffnen. Zu leben und nicht nur zu überleben.
Augen zu und durch ist ein Irrweg. Sich im rechten Maß und mit Ausdauer zu fordern, ist hingegen wichtig.
Selbstsicher ist der, der oft im Mittelpunkt steht
Es gibt Menschen, die oft im Mittelpunkt stehen. Sie sind es, die Gespräche anfangen, auf Menschen zugehen und soziale Situationen in die Hand nehmen.
Nicht selten ist dieses Aktiv-Werden eine Handlung, um sich Sicherheit zu verschaffen. Wenn ich das Gespräch bestimme, dann kontrolliere ich es auch. Dann läuft es so, wie ich es will, dann überrascht mich nichts, was mich beängstigen könnte.
In manchen Sozialphobie-Büchern gibt es den Begriff des "Vorwärtsvermeider". Dies beschreibt genau dieses Phämomen: Um seine Angst in den Griff zu bekommen, bestimmt und gestaltet man die soziale Situation. Mit dem Nebeneffekt, dass man von den anderen sogar als sehr selbstsicher wahrgenommen wird. Die innere Wahrheit ist jedoch eine andere. Um Unsicherheit gar nicht erst aufkommen zu lassen, bestimme ich den Lauf der Dinge.
Selbstsicher sind eher Menschen, die in unterschiedlichsten sozialen Situationen eine innere Sicherheit spüren und gelassen sich überraschen lassen können, was das Leben gerade so zu bieten hat. Sie können offen sein, für das, was sich in sozialen Situationen ereignet. Sie können dies, weil ein Vertrauen da ist, dass es schon irgendwie werden wird oder das man genügend Fähigkeiten haben wird, auch schwierige oder ungewohnte Situationen zu meistern.
Selbstsichere Menschen haben die Wahl: Sie können im Mittelpunkt stehen, können aber genauso im Hintergrund sein. Sie können Situationen gestalten, können sich aber genauso auf Unbekanntes einlassen.
Bei "Vorwärtsvermeidern", also den scheinbar selbstsicheren Menschen, ist es meist so, dass sie schlechte Zuhörer sind, sich nicht wirklich in den anderen einfühlen können. Sie sind nicht wirklich offen für Neues und für den Anderen. Sie sind zu beschäftigt damit, die Situation zu kontrollieren. Spontanität kommt nicht auf.