Sopha Selbsthilfe

Gedichte und Texte

(Manchmal hilft auch ein Gebet:)

Ohne Worte

Er sagte nichts
und ich verstand ihn gut.

Wichtigkeit

Alles ist von Wichtigkeit.
Alles ist nicht gar so wichtig.
Nur die rechte Sichtigkeit,
und du wandelst richtig.

Christian Morgenstern

Für was lebst du?

Wenn du mich kennen willst,
frag nicht, wo ich lebe;
oder was ich gern esse;
oder wie ich mein Haar kämme;
sondern frag mich,
wofür ich lebe, genau im einzelnen,
und frag mich,
was nach meiner Meinung
mich davon abhält,
völlig die Sache zu leben,
für die ich leben will.

Thomas Merton

Ich gehe eine Straße entlang

1.
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren. Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

2.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein - aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.

4.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

5.
Ich gehe eine andere Straße entlang.

(Verfasser unbekannt)

Liebe

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
Himmel und Erde sind sich gleich.
Spricht der Himmel: Werde!
Da grünt und blüht die Erde!
Spricht die Erde: Sterbe!
Da wird der Himmel ein lachender Erbe.
Sterne sah ich blinken und sinken,
Den Mond in der Sonne ertrinken,
Die Sonne stieg in die Meere,
Ohne dass sich ein Fünklein verlöre.
Feuer und Wasser hassen sich,
Erde und Wasser umfassen sich,
Luft und Feuer entzünden sich,
Erde und Feuer ersticken sich,
Erde und Luft umkühlen sich,
Luft und Wasser umspielen sich,
Aber alles ist Liebe, Liebe, Liebe
Und wenn sich alles empörte, verzehrte, verschlänge,
Dass gar nichts bliebe, bliebe doch Liebe
Die Hülle, die Fülle, die Menge.

Clemens Brentano

Veränderung braucht Zeit

Sie sind so jung, so vor allem Anfang,
und ich möchte Sie, so gut ich es kann,
bitten, lieber Herr, Geduld zu haben
gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen
und zu versuchen, die Fragen selbst
liebzuhaben wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden
Sprache geschrieben sind.

Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können,
weil Sie sie nicht leben könnten. Und es
handelt sich darum, alles zu leben.

Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben
Sie dann allmählich, ohne es zu merken,
eines fernen Tages in die Antwort hinein.

(Rainer Maria Rilke)

Ich bin derselbe noch

Ich bin derselbe noch, der kniete
vor dir in mönchischem Gewand:
der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand.
Die Stimme einer stillen Zelle,
an der die Welt vorüberweht, -
und du bist immer noch die Welle,
die über alle Dinge geht.

Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen
von schönen Engeln und von Geigen,
und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen,
von seiner Stärke Strahlen schwer.

Bist du denn Alles, - ich der Eine,
der sich ergibt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der des hört?

Hörst du denn etwas neben mir?
Sind da noch Stimmen außer meiner?
Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer,
und meine Wälder winken dir.

Ist da ein Lied, ein krankes, kleines,
das dich am Micherhören stört? -
auch ich bin eines, höre meines,
das einsam ist und unerhört.

Ich bin derselbe noch, der bange
dich manchmal fragte, wer du seist.
Nach jedem Sonnenuntergange
bin ich verwundet und verwaist,
ein blasser Allem Abgelöster
und ein Verschmähter jeder Schar,
und alle Dinge stehn wie Klöster,
in denen ich gefangen war.
Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,
du sanfter Nachbar jeder Not,
du meines Leidens leiser Zweiter,
du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.

(Rainer Maria Rilke)

Meine Mutter (Rilke)

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich
groß der Tag bewegt,
sogar allein.

Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.

Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht es nicht, dass einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.

(Rilke) (zum Gruppenabend 04.12.2005 Thema Mutter)

Werden

Du bist ein werdendes, nicht ein gewordnes ICH.
Und alles Werden ist im Widerspruch mit sich.
Unendliches das WIRD, muss ENDLICH sich gebären.
Und Endliches will, indem es wird,
unendlich werden.

(Friedrich Rückert)

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