Sopha Selbsthilfe

Artikel für die Selbsthilfezeitschrift Forum

Die Kontaktstelle für Selbsthilfe in Dortmund bringt 4 mal im Jahr eine Zeitschrift heraus, mit dem Namen "Forum". Hier können Selbsthilfegruppen über ihre Gruppenarbeit berichten. Wir veröffentlichen dort auch immer mal wieder einen Artikel. Hier könnt ihr bereits erschienene Artikel nachlesen.

Bereits erschiene Forum-Hefte könnt ihr komplett als PDF im Selbsthilfenetzwerk herunterladen:
Link zur Dortmunder Kontaktstelle im Selbsthilfenetzwerk

Juni 2010: Selbsthilfe und Ehrenamt - Sinnvolles Engagement

Seit mittlerweile 11 Jahren ist die Selbsthilfearbeit im Bereich Sozialphobie für mich ein wichtiges Betätigungsfeld. Wenn ich frage, welche Arbeit gut für mich ist, dann ist es vor allem die sinnerfüllte Tätigkeit, bei der ich meine Fähigkeiten einbringen kann und genügend Gestaltungsspielraum habe, um eigene Ideen umzusetzen. Ich bin dann am glücklichsten bei der Arbeit, wenn ich mich für etwas engagiere, was mir wirklich etwas bedeutet. Wenn ich mich mit Herz und Seele einbringen kann.

Umgedreht bin ich dann unglücklich, wenn ich Dinge tun muss, von denen ich überhaupt nicht überzeugt bin. Oder ich in einem starren, festgefahrenen System arbeiten muss, wo so viel unsinnige Dinge getan werden, weil man sie schon immer so gemacht hat, oder weil Menschen - aus welchen Gründen auch immer - daran festhalten. Dann fällt es mir schwer, mich zu disziplinieren und einfach zu machen.

Man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären
zu können.
(Friedrich Nietzsche)

In der Freiwilligenarbeit sehe ich den Vorteil, dass die Bedingungen für gute Arbeit oft besser sind. Von alleine kommt das aber auch nicht, ganz schnell können in der Selbsthilfe wieder starre Konstellationen entstehen, in denen keiner mehr Lust hat, sich zu engagieren und einzubringen. Wir hatten mal ein Seminar bei Klaus Vogelsänger, wo mir eine Aussage gut in Erinnerung blieb. Er meinte sinngemäß, dass man Menschen in der Selbsthilfe vor allem dann motiviert, wenn sie ein Betätigungsfeld bekommen, in dem sie gestalten können. Sie wollen nicht einfach nur Aufgaben erfüllen, die man ihnen zuteilt. Wir mussten da selbstkritisch feststellen, dass wir uns als Engagierte zwar oft Entlastung wünschen, aber nicht bereit sind, wirklich Entfaltungsräume abzugeben.

Insofern fand ich es wichtig, mir in der Selbsthilfe freie Gestaltungsräume zu bewahren und auch andere immer wieder dazu einzuladen, sich etwas zu suchen, worin sie sich engagieren wollen. Ich unterstütze gerne, wenn jemand etwas neues ausprobieren will und trete mir auf die Füße, wenn ich merke, dass ich mich zu sehr einmische. Ich neige manchmal dazu, alles besser zu wissen, insofern verlangt das schon einige Disziplin von mir, mich zurückzuhalten und die anderen einfach machen zu lassen. Wenn ich mich zu stark in die Entfaltungsräume anderer einmische, behindere ich in Wirklichkeit.

Ich glaube daran, dass dies die stärkste Motivation in der Selbsthilfearbeit ist: Freie Entfaltungsräume, in denen man auf gute Weise sinnvoll wirken kann. Und ich merke, wie mein Bedürfnis danach gewachsen ist, etwas konkret mitzugestalten in einer Welt, in der man so oft nur ohnmächtig zuschauen kann.

Angenehm finde ich auch, dass ich bei dieser Arbeit nicht sonderlich unter Druck stehe. Wenn ich eine gute Idee habe - z.B. die Vorbereitung eines Seminars - dann kann ich es tun. Ich muss aber nichts tun, es verlangt keiner von mir eine bestimmte Leistung. Ich muss nicht kreativ sein in Phasen, wo ich einfallslos bin. Ich muss nichts leisten in Phasen, wo ich durchhänge. Ich kann sozusagen die Energie nutzen, die gerade da ist. Diese Freiheit wirkt sich auch positiv auf die Qualität der Arbeit aus.

Selbsthilfe ist allerdings nicht nur Paradies - ich habe mich auch durch viele Dinge hindurchquälen müssen. Ich quäle mich aber lieber für etwas, mit dem ich vom Herzen verbunden bin. Und die Anstrengung hat mir persönlich auch viel gebracht. Wir hatten komplizierte Auseinandersetzungen in der Selbsthilfegruppe, mussten so manch schwierige Situation bewältigen. Und doch möchte ich die meisten dieser Situationen als Erfahrungsfeld nicht missen.

Als die Kontaktstelle letztens eine Umfrage machte, wie viel Zeit wir ehrenamtlich in die Selbsthife investieren, kamen wir auf 32.000 Euro jährliche Kosten, wenn unser Angebot nach marktüblichen Preisen bezahlt werden müsste. Wäre es da nicht verlockend, seine Zeit stattdessen zum Geldverdienen zu verwenden?

Wenn man hinschaut, so organisiert sich fast jeder irgendwelche Lebensräume, in denen man den eigenen Bedürfnissen nachgehen kann. Manch einer verbringt viel Zeit mit Gartenarbeit, andere basteln an der Modelleisenbahn oder verbringen ihre Zeit mit Vereinsarbeit. Es ist nicht ungewöhnlich, in freier Zeit für etwas zu arbeiten, was eigene Bedürfnisse befriedigt. Sich hineinzugeben, um dann was zu ernten. In der Selbsthilfe sind die Bedürfnisse teilweise etwas anders gelagert. Da geht es darum, schwierige Lebenssituationen zu meistern, voneinander zu lernen, Wegbegleiter zu haben, reden zu können, sowie Mut und Hoffnung zu nähren. Es geht aber auch um so ganz allgemeine Bedürfnisse, sich mit Menschen wohlzufühlen, in Gruppen etwas zu unternehmen, gemeinsam etwas zu erleben, Spaß zu haben.

Sich solche Lebensräume zu schaffen, macht also viel Sinn und schafft bereichernde Lebenszeit. Wenn es gelingt, die Arbeit gut zu verteilen, dann bleibt der Aufwand für jeden auch sehr überschaubar.

Zur Zeit der Überflussgesellschaft hatten die meisten Leute genug,
wovon sie leben konnten.
Aber viele Menschen wussten von nichts, wofür sie hätten leben können.
(Viktor Frankl)

-- Fred

Februar 2010: Ohne Kontakt - Womit bleibt man allein?

In der Gruppe hören wir öfters: "Noch nie konnte ich mit jemandem darüber sprechen. Ich bin so erleichtert, endlich darüber reden zu können!"

Viele Menschen bleiben in weiten Teilen alleine mit ihrer Innenwelt. Unsere Gesellschaft ist sehr außenorientiert. Wir unterhalten uns, welches Auto wir gekauft haben oder wie das letzte Fußballspiel war. Aber ganz persönlich über sich zu reden, wie man sich fühlt, was einen ängstigt, worüber man nachgrübelt - dafür haben viele keinen Ansprechpartner oder Gesprächsrahmen. Besonders Männern fällt es schwer, über sich zu reden.

Das Dilemma fängt oft schon sehr früh an: In den ersten Lebensjahren machen wir vielfältigste Erfahrungen, die verdaut und integriert werden müssen. Wir brauchen Menschen, die uns Halt geben, uns Mut zusprechen und begleitend zur Seite stehen. Teilnehmer unserer Gruppen berichten, dass sie damals nie jemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten. Sie blieben alleine mit ihrer ganzen Seelenwelt. Sie machten alles mit sich selbst aus. Gerade in den ersten Lebensjahren kann man damit stark überfordert sein. Wenn man keine Erwachsenen hat, die einem bei der Integration schwieriger Erfahrungen helfen, bleibt jede Menge Unerledigtes in der eigenen Psyche zurück. Bei Sozialphobie kommt noch hinzu, dass man oft auch isoliert von Gleichaltrigen lebt und so noch mehr auf sich allein gestellt ist.

Erst eine Selbsthilfegruppe oder eine Psychotherapie ist dann der Ort, wo man zum ersten mal damit beginnt, über sich zu reden. Und das ist gar nicht so einfach. Man weiß überhaupt nicht, wie das geht. Und man hat keine Worte für das, was Innen ist, was man erlebt. Über sich zu sprechen, kann auch Angst oder Scham auslösen. Ich weiß, wie schwierig es war, als ich das erste mal über meine Ängste gesprochen habe. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas höchst Peinliches an mir, was sonst niemand kennt.

In einer Selbsthilfegruppe machen dann auch viele diese erleichternde Erfahrung: "Ich bin ja gar nicht allein damit, es gibt so viele, die ganz ähnlich wie ich fühlen." Und das lädt ein, sich auch mitzuteilen, über sich zu sprechen.

Ich erlebe es als sehr heilsam, wenn man über all das reden kann, was in einem vorgeht. Wenn Menschen an dem Anteil nehmen, was ich fühle, denke und bewerte. Für mich waren die letzten 15 Jahre Therapie und Selbsthilfe immer auch Übungsfeld, mich mitzuteilen. Vieles, was ich früher nur mit mir ausmachte, teile ich jetzt mit anderen. Und bekomme so auch wichtiges Feedback und Anregungen. Ich bin nicht mehr allein damit.

Psychotherapie und Selbsthilfe können sich hier gut ergänzen. Es gibt Dinge, die kann man nur mit seinem Therapeuten besprechen. Und es gibt anderes, was man lieber in der Selbsthilfegruppe bespricht. Manches können auch nur Menschen verstehen, die ebenso betroffen sind. Das, was man in Therapie bespricht, wird nicht selten nochmal Gruppenthema. In der Selbsthilfe entstehen auch Freundschaften, in denen der Austausch noch vertieft wird.

In Gesprächen über das eigene Seelenleben ensteht Klarheit über sich selbst. Und vieles, was bisher im Vorborgenen war, kann jetzt erlöst werden. Mitunter einfach dadurch, dass man die Dinge benennt, nochmal neu versteht und eine andere Einstellung dazu findet. Eine Frau sagte letztens in der Gruppe: "Ich möchte lernen, selbstbewusst schüchtern zu sein." und ein anderer war ganz verblüfft über diese Formulierung. So hatte er das noch gar nicht gesehen und es gefiel ihm irgendwie.

Nicht über alles wird man sprechen können, es wird wohl auch immer einen geschützten Bereich geben, den man ganz für sich behält. In der Selbsterfahrungsszene gibt es den Ausspruch: "Wer offen ist für alles, ist nicht ganz dicht!". Ich denke, jeder muss hier auch gut auf seine Grenzen achten. In unseren Selbsthilfegruppen gibt es z.B. die Regel, andere nicht auszufragen, stattdessen von seiner eigenen Erfahrung zu berichten. Jeder soll die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, was er mitteilen möchte.

Wichtig ist, dass man über Gruppenarbeit und Therapie lernt, sich seiner Innenwelt zuzuwenden. Und das hilft einem, auch für sich Dinge zu klären und sich besser verstehen zu lernen. In der Gruppe sagte mal jemand: "Die Therapie ging im Grunde erst nach meiner Therapie richtig los." Er hatte jetzt das Handwerkszeug, womit er sich nun selber in seinem Entwicklungsprozess begleiten konnte. Und die Selbsthilfegruppe wurde eine feste Institution in seinem Leben, wo er regelmäßig weiter hinschaut, was ihn bewegt.

-- Fred

September 2008: Was wirklich trägt - Sozialphobie oder Lebensbegleitung?

Nunja, eigentlich wollten wir ja eine Gruppe für Menschen mit Sozialphobie und sozialen Ängsten. Das war die Idee bei der Gründung vor 9 Jahren. Aber wie oft reden wir eigentlich über diese Grundproblematik?

Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich gar nicht daran erinnern, wann zuletzt das Wort Sozialphobie mal benutzt wurde. Es hat sich anders entwickelt: Uns eint zwar alle das gleiche Grundthema, weshalb wir zu dieser Gruppe gefunden haben. Und doch sind wir Menschen, die sehr vielfältige Erfahrungen machen. Auf diesem Lebensweg gibt es Schwierigkeiten und Hürden. Und es gibt gute Erfahrungen - Freude, Hoffnung, Erkenntnisse, positive Lebensschritte.

So fühlen wir uns als Menschen verbunden. Ich glaube, das ist das Zentrale, was trägt. Wir kommen zusammen und reden darüber, was uns im Leben gerade betrifft und bewegt. Wir begleiten uns sozusagen. Schaffen einen Gesprächsraum, wo gesagt werden kann, was sonst vielleicht nirgendwo gesagt wird. Dinge, die man sonst nur mit sich ausmacht. Es geht dabei vorwiegend um psychische Themen, mit was man also gerade innerlich beschäftigt ist. Das können konkrete Probleme und Schwierigkeiten des Alltags sein. Oder auch die Suche nach Orientierung und Sinn im Leben. Manchmal kommen wir dabei auch ins Philosophieren oder berühren spirituell-religiöse Themen.

Schlussendlich zielen wir damit auf etwas ganz Wesentliches: Wie kann Leben gelingen? Wie kann man Leben unterstützen, damit es sich entwickelt und entfaltet?

Lebensgeschichten berühren mich, die inneren Dramen genauso, wie die Schritte der Befreiung hin zu einem selbstbestimmten und verantwortlichem Umgang mit dem Leben. Manchmal kann ich mit meinen Erfahrungen einen Impuls geben. Oder ich fühle mich verbunden mit Lebensgeschichten, weil ich ähnliches selber durchlebt habe. Andere wiederum haben etwas schon durchlebt und geben mir Mut und Hoffnung, es auch zu schaffen. Gemeinsam entstehen Ideen, was der nächste Schritt sein könnte.

All das erlebe ich als ein Stück Begleitung. Ich gehe meinen Entwicklungsweg nicht alleine. In dieser Begleitung wird man sich vertraut, gerade deshalb, weil man sehr Persönliches miteinander teilt. Was bleibt, ist Verbundenheit, jenseits der Grundproblematik, warum man zueinander gefunden hat.

Es gibt auch viele Themen, die auf den ersten Blick nichts mit Sozialphobie zu tun haben, beim näheren Hinsehen aber doch direkt damit verbunden sind. Wir hatten in den letzten Monaten öfters mal das Thema Neid. Neidisch zu sein auf Menschen, die erfolgreich sind. Sie sind im Grunde Spiegel dafür, dass das eigene Leben nicht so gelingen konnte, wie man es sich gewünscht hat. Und das ist etwas ganz typisches, dass man aufgrund von Sozialphobie nicht seinen Platz und Entfaltungsraum in der Gesellschaft findet. Dies kann dann auch zu Resignation und Depression führen. Und es führt auch zu Trauer und Trauerbewältigung. Bei näherem Hinsehen ist vieles miteinander verwoben.

Das Herz füreinander zu öffnen und sich zu begleiten, erscheint mir sinnvoller, als eingeschränkt nur Experte für alle Formen von Sozialphobie zu werden. Es ist auch etwas, was uns viel mehr vereint: Nach einem guten und gelingenden Leben Ausschau zu halten, macht immer Sinn. Sozialphobie hingegen beschäftigt einen mal mehr, mal weniger.

Könnte man dann so eine Gruppe nicht für alle Menschen öffnen? Braucht es überhaupt noch den Bezug zur Sozialphobie? So ein Gedanke ist mir schonmal gekommen und ich glaube, vielen Menschen würde es gut tun, über ihren Lebensweg zu reflektieren. Andererseits glaube ich, es ist wirklich wichtig, das Menschen mit sozialen Ängsten untereinander sind. Diese Thematik bringt es ja mit sich, dass gerade zwischenmenschlicher Austausch schwer ist. Hier brauchen wir ein besonders stützendes Gruppenumfeld. Wir müssen verstärkt darauf achten, dass jeder gehört und gesehen wird. Auch fällt es vielen leichter, sich unter Betroffenen zu öffnen und sich mitzuteilen. Und natürlich tauchen durch Sozialphobie bestimmte Themen verstärkt auf, denen man sich so tiefer zuwenden kann.

-- Fred

Mai 2007: Wege integrieren, Vielseitigkeit fördern

Ich erinnere mich an Zeiten, wo wir in den Selbsthilfegruppen darum stritten, ob nun Medikamente oder Psychotherapie die bessere Wahl ist, Ängste und Phobien zu überwinden. Oder ob Verhaltenstherapie besser ist als Gesprächstherapie.

Solche Gespräche polarisieren und es kann auch irgendwann passieren, dass eine Gruppe sich auf ganz konkrete Ideen von Heilung versteift. Nicht selten passiert es dann auch, dass andere Wege verteufelt werden.

Kommen nun Menschen in die Gruppe, die einen anderen Weg eingeschlagen haben und damit Erfolg hatten, finden sie keinen Platz in der Gruppe. Wenn die vertreten, was wir verteufeln, dann findet man nicht zusammen.

Da gibt es die Geschichte mit den fünf Blinden und dem Elefanten. Sie ertasteten alle den Elefanten und stritten dann, was ein Elefant ist. Der eine meinte: "Ein Elefant ist wie ein langer Arm." Der nächste meinte: "Nein, das stimmt nicht, ein Elefant ist wie eine dicke Säule." Und der dritte meinte: "Ganz und gar nicht, ein Elefant ist wie ein großer Fächer." So ging es weiter und im Grunde hatte jeder recht. Jeder sah aber nur einen Teil der Wahrheit. Der eine berührte den Rüssel, der nächste die dicken Beine und der dritte das Ohr. Jeder hatte mit seiner Beschreibung recht. Weil sie aber nicht wussten, dass ein Elefant noch viel mehr ist, wähnte sich jeder im Recht und dachte, der andere muss damit unrecht haben.

Seit mir das so bewusst ist, glaube ich, dass in allen Wegen, von den Menschen in Selbsthilfe berichten, etwas Heilsames zu finden ist. Oder das es zumindest gut sein kann, sich dahingehend zu öffnen: "Was ist das Helfende und Heilsame an der Erfahrung, über die jemand berichtet?" Um dann zu schauen, wie kann ich das in meine bisherige Sichtweise integrieren? Diese Mühe lohnt sich, weil es das Bewusstsein weitet, anstatt in einer eigenen festen Sichtweise zu erstarren.

Ein typisch kontrovers diskutiertes Thema ist die Verhaltenstherapie. Manche sehen sie als die bevorzugte Therapieform bei Ängsten. Andere verteufeln sie und sagen, das wäre alles zu oberflächlich und gehe nicht an das eigentliche Problem ran. Die Erfahrungen von Betroffenen sind da ziemlich kontrovers.

Meine Sichtweise hat sich im Laufe der Jahre deutlich verändert. Früher war eine ablehnende Haltung für mich wichtig, weil ich in der Verhaltenstherapie etwas nicht finden konnte, was für mich in dieser Zeit wichtig war. Heute ist es so, dass ich ganz klar sehen kann, wie Verhaltenstherapie helfen kann. Ich erlebe Menschen, denen das geholfen hat und ich habe selber erlebt, wie es mir geholfen hat.

Wie kann das sein, dass etwas hilft und gleichzeitig abgelehnt wird?

Ich glaube, dass es ein grober Fehler ist, wenn man in der Verhaltenstherapie das Mittel der Wahl bei Ängsten sieht. Das wäre genauso fatal, als würde man behaupten, einzig die richtige sportliche Betätigung führt zur Gesundung bei Ängsten. Und der nächste sagt: "Nein, einzig und allein die Selbsthilfegruppe ist das Mittel der Wahl."

Es gibt so viele kostbare Quellen für Gesundung, warum müssen wir immer wieder anfangen, eine zu forcieren und alle anderen auszugrenzen? Warum können wir uns nicht von all dem nähren, was da ist?

Dafür setze ich mich ein: Zu erkennen, was gut an etwas ist und wie man das für sich nutzen kann. Ich möchte Raum schaffen in der Selbsthilfe, wo alle Erfahrungen miteinander geteilt werden dürfen. Wo es nicht nur den einen Weg gibt und andere Wege verteufelt werden. Ob Verhaltens-, Körper- oder Gesprächstherapie, ob Entspannungsverfahren, Yoga, Meditation oder Selbsthilfe - überall können wir etwas finden, was hilft. Auch bei Medikamenten, was ein ähnlich kontrovers diskutiertes Thema ist.

Natürlich muss das auch alles zu einem Gesamtbild integriert werden. Und ich muss Fähigkeiten entwickeln zu erspüren, was in welchem Moment richtig für mich ist.

Wenn Selbsthilfe viele Wege aufzeigt, dann ist für etwas Wesentliches gesorgt: Für den weiten Blick in die Welt der Möglichkeiten. Wenn ich weiß, was es gibt und welche Erfahrungen Menschen gemacht haben, dann kann ich wählen. Und mit der Zeit kann ich Fähigkeiten entwickeln, eine gute Wahl für mich zu treffen.

-- Fred