Sopha Selbsthilfe

Eine Geschichte

1

Er fuhr nun schon seit Stunden, ohne dass die Landschaft links oder rechts sich verändert hätte. Von der Küstenstraße des Vänern war er nach Norden abgebogen, und die große mittelschwedische Waldeinsamkeit hatte ihn geschluckt. Alles Menschliche, so fühlte Arne, lag in seinem Rücken, die Straße voraus aber wartete etwas anderes auf ihn.
Einer Legende zu folgen, war er aufgebrochen. Oder auch nur, um das Verschwinden eines Freundes aufzuklären, der vor sechs Wochen von einem Wanderurlaub am Siljan, dem "schönsten See der Welt", nicht zurückgekehrt war. Ein zweiminütiges Handy-Telefonat war der letzte Kontakt zu Robert gewesen. Von Kiel aus hatte er die Redaktion angerufen: er habe im Archiv der Universität eine verrückte Indianergeschichte ausgegraben und wolle seinen Urlaub nutzen, um der Sache mal nachzugehen. Am Siljan oder etwas nordwestlich davon sei die Story angesiedelt und eigentlich zu verrückt für unser Magazin... Dann war das Gespräch unterbrochen. Seither nichts mehr von Robert.
Arne hatte Sonderurlaub beantragt und bekommen. - Er und Robert schrieben für ein Reisemagazin, für Camper und Rucksacktouristen. Allerdings mit gehobenem Anspruch, etwas literarisch verbrämt. Lieferte er bei seiner Rückkehr eine passable Story, mitsamt allen touristischen Infrastrukturdaten, dann erstattete ihm der Verlag die Hälfte der Reisekosten.
Darauf mochte auch Robert spekuliert haben, dessen Spur Arne nun seit drei Tagen verfolgte. Er war zunächst nach Kiel gefahren, an die Universität. Aber dort hatte man ihn nicht gesehen. Lange nicht. Vor sechs Jahren hatte er am dortigen Institut für Frühgeschichte mit den Fächern Skandinavistik und Anthropologie promoviert. Die ältliche Bibliothekarin hatte ihn seither nicht gesehen. - Ja, er sei ein Freund von Robert. Nein, es gehe ihm gut, verheiratet sei er nicht. Wo er jetzt wohne? - Das Gespräch ging Arne zu weit. Was war mit der Frau? Sie schien Robert sehr gut gekannt zu haben; Robert hatte nie von ihr erzählt.
Also nichts. Kein Hinweis auf die merkwürdige Geschichte, die Robert veranlasst hatte, bis an den Rand der bewohnten Welt aufzubrechen. Im Hafen dann die Erleichterung: - Ja, Robert war hier gewesen. Er hatte die Fähre genommen: 14 Stunden bis nach Göteborg. Sein alter Landrover war auch bemerkt worden. Also hatte Arne es ihm gleich getan. Der nächste Morgen auf der Fähre: schlechtes Wetter draußen, gutes Essen drinnen, etwas gelesen, viel geschlafen. Nach seiner Ankunft war er gleich losgefahren, raus aus dem Trubel der Großstadt. Etwas außerhalb hatte er die Nacht noch einmal in einem richtigen Bett verbracht, bevor das Zelt für die nächste Zeit sein Zuhause sein würde. Am Morgen des dritten Tages fühlte er sich ausgeruht und voller Abenteuerlust. Nach gutem Frühstück und gründlichem Fahrzeugcheck war er nach Norden aufgebrochen.
Arne fühlte, wie eine Ungeduld sich legte, die ihn die ersten Tage zur Eile getrieben hatte. Die wilde, ernste Landschaft verzauberte ihn, übte eine tiefe Beruhigung auf ihn aus. Es war Anfang Mai. Der Golfstrom hatte den Frühling weit nach Norden gebracht. Überall gurgelte und gluckste es, strömte, rauschte und stürzte; die noch schneebedeckten Skanden waren hier nicht weit. Die Präsenz des Wassers war überwältigend. Das Geschehen nahm seine Sinne gefangen, er fühlte sich als Teil von etwas Größerem, von dem er nicht verstand, was es wollte. Eine merkwürdig widersprüchliche Empfindung war das: Er spürte eine Geborgenheit ähnlich der, die er als Kind gespürt hatte: müde und zufrieden lag er in seinem Bett, und die freundlichen Stimmen der Eltern drangen durch den Türspalt zu ihm ins Zimmer; er verstand nicht, aber er fühlte sich geborgen und zugehörig. - Dann aber auch, noch hintergründig, lag etwas Fremdes, sogar Bedrohliches in dieser Szenerie und über Arnes ganzem Vorhaben. Arne wusste: das Gefühl zivilisatorischer Sicherheit, das er im seelischen Gepäck mit sich führte, würde schnell aufgebraucht sein. - Er nahm sich vor, sich abzusichern, sobald er in Mora eintreffen würde. Er wollte jemanden ins Vertrauen ziehen und genau über seine Expedition unterrichten. Außerdem wollte er sich hartnäckig nach Robert erkundigen. Jemand musste ihn gesehen haben.

2

Am Ortsausgang von Torsby saß eine Frau am Straßenrand auf ihrem Koffer. Ein großes Pappschild mit der Aufschrift "Mora" hielt sie in die Höhe. - Verflixt! Eigentlich wollte Arne keine Gesellschaft, aber irgendein Impuls hatte ihn zu halten veranlasst. Er wartete. Die Frau stieg ein. Sie war etwa Ende 20, eine sehr attraktive Erscheinung. Auf dem Koffer, den sie zu ihren Füßen abstellte, stand ihr Name: Katja Angermann. Sie kam aus Hamburg.
"Ich will eigentlich weiter nach Stockholm, in Mora treffe ich nur meinen Freund. Wir nehmen an der großen Demonstration teil, sie wissen schon..." Arne wusste nicht. "Demonstration...?", fragte er vorsichtig. "...der Globalisierungsgegner. Wir haben vorher noch eine Konferenz, in den Räumen des Nobel-Kommittees. Mein Freund ist Kulturphilosoph, er wird referieren."
Sie nahm das furchtbar wichtig, empfand Arne. Ohne sich von ihrer Emphase anstecken zu lassen, fragte er: "Und? Glauben Sie, dass die Globalisierung noch aufzuhalten ist?" "Nein. Definitiv nicht. Die Entwicklung ist nicht zu stoppen. Wir müssen nur bereit sein zu sehen, dass ihre Tendenz auf nichts Menschliches mehr abzielt. Globalisierung bedeutet Enthumanisierung. Es ist die Technik, die uns beherrscht, die längst selbstorganisiert ihre eigene Weiterentwicklung betreibt, und nicht mehr zum Wohle des Menschen. Alle politischen Utopien sind verbraucht, weil der Mensch längst nicht mehr das Maß der Dinge ist. Wir müssen uns eingestehen, dass wir furchtbaren Göttern dienen, die wir selber noch erschaffen werden."
Arne erinnerte sich an Gespräche, die er mit Robert geführt hatte. Da war auch vom Wesen des Menschen die Rede gewesen. Und von einem Problem der philosophischen Anthropologie, wie dasselbe zu bestimmen sei. - Begnügte man sich mit einer Aufzählung von Eigenschaften, die den Menschen aus dem Tierreich heraushoben: aufrechter Gang, Gebrauch von Werkzeugen, Entwicklung von Sprache, - dann hatte man den kleinsten gemeinsamen Nenner des Menschlichen, der sich über alle Exemplare gleichermaßen erstreckte. - Betrachtete man den Menschen aber in seinem religiösen Wesen oder in den singulären Leistungen großer Kunstwerke, dann drang man sozusagen in den menschlichen Möglichkeitsraum vor, bis hin zu den "noch nicht erwachten Absichten Gottes", wie Musil es formuliert hatte. Dann wäre der Mensch nur ein hingehauchter Kuss der Natur, ein Gruß an die Götter, ein Versprechen auf mehr. Und das Humane nur eine Etappe auf dem Weg zur Unendlichkeit.
"Pass auf!" - Arne bemerkte im selben Moment das riesige Tier, das 20 m vor ihnen auf die Fahrbahn gelaufen war, und stieg voll in die Eisen. Der Wagen geriet auf den Schotterrand, stellte sich quer und kam zum Stehen. Aus dem Seitenfenster sah Arne, wie der Elch nur kurz in seine Richtung blickte und dann seinen Weg unbeeindruckt fortsetzte.
"Nochmal gutgegangen", bemerkte Katja, und Arne fühlte noch den Adrenalinschock nach, den diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte. Sein Puls normalisierte sich. Er brachte den Wagen wieder in Fahrtrichtung und fuhr rechts ran. "Wer mit seinem Kopf in globalisierten Wolken schwebt, übersieht schnell, dass lokal schlimme Dinge passieren können", versuchte er zu scherzen. Katja lächelte müde. Sie stiegen aus. Arne öffnete den Kofferraum. "Noch etwa 100 km bis Mora. In gut 2 Stunden müssten wir da sein. - Willst du auch einen Kaffee?" "Gern. Kann ich jetzt brauchen. Hätte nicht gedacht, dass die Viecher so groß sind."
Sie setzten sich auf einen großen Stein und blickten in den lichten Kiefernwald, aus dem das Unheil hervorgebrochen war. Der Wald schien endlos. "Die haben hier noch mehr im Sortiment: Wölfe und Bären zum Beispiel." - Arne versuchte, Katja ein wenig anzugruseln. "Sprich lieber nicht davon. Können wir weiterfahren?" Sie kippte ihren Kaffee auf die Straße und stieg ein.
Irgendwie war eine Beziehung hergestellt. Arne wunderte sich. So etwas war ihm früher schwer gefallen. Sie hatten so unvermittelt zum Du gefunden, wie es eigentlich das Normalste von der Welt war, dachte Arne. Man merkt, dass man miteinander kann, dass man die Welt ähnlich versteht und sich gegen nichts Unliebsames zu verwahren hat, dass also Förmlichkeiten weiterhin unnötig sind. - Jetzt aber fuhr er stur die Straße lang und nichts fiel ihm mehr ein. Egal, dann war es eben so. Falscher Zeitpunkt, um alte Ängste wiederzukäuen. Die Sonne schien, und sie näherten sich Mora.